Platon
beobachtet bei seinem Lehrer Sokrates, dass das Reaktivieren dieses
Sinns ein Vertiefen des Wahrnehmens derart ermöglicht, dass
metaphysische Ereignisse hervorscheinen. So erfährt Sokrates das
Idein so, als ob ihn ein Schutzgeist begleitet. Aber dieser
Schutzgeist begleitet ihn nicht nur, sondern berät ihn auch in
heiklen Situationen.
In
der Tat wird in
der Geschichte der Philosophie das Phänomen der inneren Stimme zum
ersten Mal von Sokrates beschrieben. Sokrates nennt sie ‘daimonion’.
Das bedeutet Wesen und Wirkung des Göttlichen.
Nach
Sokrates Auffassung wird jedem Menschen von Geburt an ein göttlicher
Schutzgeist mit auf den Weg gegeben, der ihn vor Unheil bewahrt. Das
erinnert an Schutzengel, deren Fest jedes Jahr am 2. Oktober gefeiert
wird. Dieses christliche Fest erinnert an das Wirken der Schutzengel,
welche die Menschen wie die „Dämonen“ des Sokrates in ihrem
Leben begleiten und vor Schaden bewahren.
Erst
wenn der Mensch diesen Schutzgeist vernachlässigt und damit den
Unwillen der Götter erregt, wird das Dämonische in ihm zur
Verblendung und Besessenheit.
Das
sokratische Daimonion hat eine Stimme und stellt sich schützend vor
die ihm Anvertrauten. Für Sokrates ist das ein klar erkennbares
Faktum. Es ist so selbst-verständlich anwesend, dass dies nicht erst
diskutiert zu werden braucht. Das Daimonion berät zwar, aber es
trägt nicht zum Erkennen bei. Das Daimonion ist streng getrennt vom
Verstand, es sagt das, was der Verstand nicht erkennen kann. Es ist
nicht das sittliche Gewissen. Was Sokrates zu tun hat und was nicht,
sagt ihm sein Verstand. Das Daimonion bedeutet die Stimme, die ihn
warnt, sobald er gegen seine Intuition handelt.
Innere
Wahrnehmungen, die sich übersinnlich gestalten und wirkliches
Anwesen von hilfreichen Wesen spüren und empfinden lassen, gelten
nicht als Fantasmata (eine Art Wahnvorstellungen), sondern als
wirklich existierend.
Der
griechische Schriftsteller Plutarch (45-120) hat das sokratische
Daimonion ausführlich erörtert. Hinweise auf die Existenz eines
Daimonion finden sich auch in den Schriften der römischen Autoren
Seneca (4-55 n. Chr.) und Marc Aurel (121-180 n. Chr.). Augustinus
deutet das Daimonion als Gewissen und legt die innere Stimme als
Stimme Gottes aus. Thomas von Aquin deutet es sogar als
Erkenntnisorgan der praktischen Vernunft.
“Die
innere Stimme gilt je nach Ansicht den einen als Stimme der Seele,
anderen als Sprache der Vernunft und wieder anderen als Ausdruck des
Gewissens oder als Zuspruch des Geistes oder auch Stimme des Herzens.
Mahatma Gandhi nennt die leise innere Stimme den einzigen Tyrann, den
er in dieser Welt anerkennt.“ (Ausgewählte Texte, Richard
Attenborough (Hrsg.))
„Du
hast deine Kindheit vergessen, aus den Tiefen deiner Seele wirbt sie
um dich. Sie wird dich so lange leiden machen, bis du sie
erhörst.“
(Ausgewählte Texte, Richard Attenborough (Hrsg.)
(Ausgewählte Texte, Richard Attenborough (Hrsg.)
Und
Friedrich Nietzsche sagt zur inneren Stimme:
“Es
geht geisterhaft zu, jeder Augenblick des Lebens will uns etwas
sagen, aber wir wollen diese Geisterstimme nicht hören. Wir fürchten
uns, wenn wir allein und stille sind, daß uns etwas in das Ohr
geraunt werde, und so hassen wir die Stille und betäuben uns durch
Geselligkeit.”
Friedrich
Nietzsche, Werke I - Unzeitgemäße Betrachtungen)
“In
dem Augenblick aber, wo uns alles verloren scheint, erreicht uns
zuweilen die Stimme, die uns retten kann; man hat an alle Pforten
geklopft, die auf gar nichts führen, vor der einzigen aber, durch
die man eintreten kann, und die man vergeblich hundert Jahre lang
hätte suchen können, steht man, ohne es zu wissen, und sie tut sich
auf."
(Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bde. 1-3 )
(Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bde. 1-3 )
Woher
die recht unterschiedlichen Namen für die innere Stimme?
“Das
liegt daran, dass sich dieses Phänomen dem Wissen entzieht und
allein dem Glauben offenbart. Der Glaube verfügt aber über keine
eindeutigen Namen bzw. Begriffe, sondern allein über vielfältige
und vieldeutige Hinweise, Zeichen oder Bezeichnungen.
Offenbarungen
des Glaubens lassen ganz persönliche Deutungen zu wie beispielsweise
auch das Wort Gott. Deshalb glaubt Sokrates seiner inneren Stimme,
als einer göttlichen Eingebung und nennt sie deshalb auch seinen
“daimonion”, also seinen persönlichen Schutzgeist, der Teil des
Ichs ist.
Diese
innere Stimme warnt ihn in entscheidenden Augenblicken und hielt ihn
von der Ausführung einer gefährlichen Absicht ab. Sokrates versteht
das Daimonion, wie bereits gesagt, als eine Gegeninstanz zum Logos,
die das erkennt, was der Vernunft verborgen bleibt, und vom Falschen
abrät, jedoch zu nichts rät.
Seinen
Daimonion schätzt Sokrates so hoch ein, dass er ihm auch gegen seine
rationale Einsicht gehorcht. Da er es auch über die Götter stellt,
wurde ihm sogar vorgeworfen, es als einen neuen Gott einführen zu
wollen.”
Die
innere Stimme offenbart der Fantasie, der Vernunft und dem Verstand,
dass sie selbst letztlich nichts Anderes ist als ein sprechendes
inneres Bild ihrer ureigenen daimonia.
Aus
der inneren Stimme spricht nicht nur das Selbst des Ichs, sondern
zugleich auch der Logos der Natur. Und was die innere Stimme nicht
auszudrücken vermag, zeigt sie dem Dritten Auge in den inneren
Bildern der Vorstellungskraft.
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